Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten zählen zum Großartigsten, was uns die klassische Musik zu bieten hat. Dabei komponierte der Meister den größten Teil seiner Sonaten in seiner früheren Schaffensphase. Dennoch wäre es müßig, die eine oder andere Sonate als weniger gelungen zu bezeichnen. Wenn Beethoven fürs Klavier komponierte, dann fantasierte er auf den Tasten und schrieb seine Fantasien nieder. Was dabei herauskam, ist so einzigartig wie faszinierend.
Eine Gesamteinspielung dieses unermesslichen Oeuvres ist gewiss kein Zuckerschlecken. Viele Pianisten konnten ihr einmal begonnenes Unterfangen nicht zu Ende führen. Der deutsche Pianist Wilhelm Kempff hingegen nahm den Sonatenzyklus sogar mehrfach auf. Die hier vorliegende Gesamteinspielung stammt aus den Jahren 1964 und 1965 und erfreut sich sehr guter Aufnahmequalität.
Kempff spielte sein ganzes Leben lang Beethoven und stand ihm devot wie einem Gott gegenüber. Von frühester Kindheit an entwickelte er einen schier unglaublichen Nexus zu dieser Musik und galt daher zeitlebens und bis heute als einer der führenden Beethoven Interpreten des vergangenen Jahrhunderts. Zudem war er immer ein Verfechter dessen, auch die kleineren, weniger bekannten Sonaten mit derselben Gewissenhaftigkeit zu zelebrieren wie die berühmten pseudoprogrammatischen Kompositionen.
Die unvergleichliche menschliche Wärme seines Spiels bemerkt man dann auch gleich, wenn er die Sonaten aus op. 2 spielt, denen er eine Natürlichkeit und Schlichtheit angedeihen lässt, die entrückt. Man höre sich nur das Adagio aus der C Dur Sonate op. 2,3 an, das bereits an die Grenzen dessen stößt, was zeitgenössische Klavier auszudrücken vermochten.
Der 1895 in Jüterbog geborene Kempff neigte nicht - wie viele behaupten - dazu, Beethovens Tempi zu verschleppen. Das beweist er eindrucksvoll in der bereits vollkommenen "Pathétique" op. 13, deren Kopfsatz unter Kempffs Händen kraftvoll und frisch daherkommt.
Besonders teuer waren ihm die zwei Sonaten opp. 26 und 27,1, die eine wegen ihres berückenden, geheimnisvollen Trauermarsches, die andere, weil sie sträflich vernachlässigt wird. Wie Kempff diese beiden intimen Stücke spielt, ist mehr als beeindruckend. Sein Anschlag ist lyrisch und poetisch. Er scheint die Werke am Klavier neu zu erfinden, scheint selbst zu fantasieren. Bis heute beispielsweise habe ich keine Interpretation der berühmten "Sturmsonate" op. 31,2 gehört, die mich mehr berührt hätte, die vollkommener wäre. Überhaupt legt Kempff innert op. 31 ganz beträchtliche Leistungen an den Tag. Das Allegro vivace aus op. 31,1 ist bezaubernd und naseweis interpretiert und man höre sich nur das bizarre Scherzo aus op. 31,3 an!
Ein Virtuose war Kempff ganz sicher nicht. Dennoch erreichen die "Waldstein" Sonate und die "Appassionata" hier ungeahnte Größe. Es ist die weltmännische Noblesse und die schlichte Eleganz von Kempffs sicherem Spiel, die diese beiden Sonaten zu Highlights der vorliegenden Einspielung machen.
Auch die drei kleinen Sonaten opp. 78, 79 und 81a nimmt Kempff ernst, spielt sie voller Tiefsinn, aber niemals zu schwer oder behäbig. Dass er zum Zeitpunkt der Einspielung bereits nahe 70 war, merkt man ihm nicht an.
Den letzten sechs Klaviersonaten opp. 90, 101, 106, 109, 110 und 111 schenkte Kempff stets besonders viel Beachtung. Von der DGG sind diese Perlen bereits separat veröffentlicht worden. Es ist die nostalgische Darbietung der e moll Sonate, die legere Gangart der A Dur Sonate und der zupackende Ernst der "Hammerklavier" Sonate, die Melancholie im Spiel der E Dur Sonate, die transzendentale Leidenschaft der As Dur Sonate und die souveräne Schärfe der c moll Sonate, die Kempff als denjenigen Pianisten ausweisen, der diese sechs Kleinodien am besten deuten konnte. Kein Brendel, kein Arrau, kein Gilels und kein Solomon haben je dieses Maß an Perfektion, innerer Harmonie und strahlender Schönheit erreicht, das der Wahlitaliener hier zelebriert.
Fazit: Neben dem Zyklus aus den 50er Jahren ist die vorliegende Einspielung ein Muss für jeden, der sich ernsthaft mit klassischer Musik auseinandersetzt. Kempffs Darbietungen sind zeitlos gültig - ebenso zeitlos wie Beethovens Musik...