Aus der Amazon.de-Redaktion
Berlin in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist das Thema von Berlin Babylon, einem Film von Hubertus Siegert. Abriss, Aufbau, Umbruch einer ganzen Stadt -- wer wäre wohl geeigneter für diesen Soundtrack als die Einstürzenden Neubauten? Sie begleiten den modernen Turmbau von Babel mit entsprechender Philosophie, wobei Blixa Bargelds Lieblingsschriftsteller Walter Benjamin nicht fehlen darf, den Schauspielerin Angela Winkler auf "Der Engel der Geschichte" zitiert. Siegert versteht seinen Kinofilm über die Baustelle Berlin als eine babylonische Zivilisationsfabel.
Schutt und Staub, infernaler Lärm und beängstigende Stille hüllen einen melancholischen Schauplatz ein. Musikalisch treffen Beton auf Stahl, "Overtüre mit Helikoptern" auf "Glas 1" und "Glas 2", Beethovens "Trauermarsch" aus der Symphonie Nr.3 auf die Gesangsversion von EN's "Die Befindlichkeit des Landes" aus dem letzten Album der Berliner Band Silence Is Sexy. Die Musik hat die nötige Betonhärte, schimmernde Metalloberfläche und filigrane Glasperlenspielerei für eine beinahe meditative Baustellen-Romantik. Nicht nur "Architektur ist Geiselnahme", ist ein typischer Bargeld-Titel, der Berlin Babylon zu einem kompakten Baustein in der Sammlung eines jeden EN-Fans macht. Gut gehämmert. --Ingeborg Schober
INTRO
Hochinteressantes Album – nicht notwendig aufgrund der Musik. Wenn man heutzutage wie Hubertus Siegert einen architekturkritischen Film über die Aufrüstung der Currywurst-Metropole Berlin zur Hauptstadt dreht, dann liegt die Wahl der Neubauten zumal aus Gründen subkultureller Nostalgie, wohl mehr als auf der Hand, wodurch sich leichthin hübsche Echoeffekte aus der Geschichte produzieren lassen. Wer erinnert sich beispielweise noch an die „kranken“ Proben der frühen Neubauten in Autobahnbrücken, das Posing der Band im faschismusgetränkten Olympiastadion, an die Kompilation mit dem hübschen Titel „Strategien Gegen Architektur“? Heutzutage lauten die Parolen sinnigerweise „Godzilla in Mitte“ oder „Architektur ist Geiselnahme“ (niemand hätte 1981 eine solche stimmige These von den Neubauten erwartet!), die Musik dazu ist hochkomplexe, hochdifferenzierte, wirkungsbewusste Score-Musik. Fluchtpunkt des Ganzen ist demgemäß gewiß nicht mehr „Krankheit“ oder „Untergang“, sondern vielmehr der kennerhafte Griff zur Walter-Benjamin-Gesamtausgabe („Über den Begriff der Geschichte“) oder der Einbezug von Beethovens Symphonie #3, op. 55, 2. Satz, if you know, what I mean. Es ist kalt in Brandenburg, sagt der Sturm vom Paradiese her.
Ulrich Kriest / Intro - Musik & so
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